FRAGEN AN DIE EVOLUTIONSBIOLOGIE
Dieser Text basiert auf einer Biologiestunde des „Elementarteilchen“-Ensembles im Rahmen der Proben bei dem Evolutionsbiologen Dr. Lukas Schärer (Universität Basel). Sein Spezialgebiet ist das sexuelle Verhalten von geschlechtswechselnden Fischen und anderen Zwittern. Seit etwa zehn Jahren erforscht er zudem einen Plattwurm, dessen Exemplare etwa die Größe eines Kommas in diesem Text haben.
Die den Fragen vorangestellten Thesen entstammen dem Roman „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq.
Bearbeitung Christoph Cordes und Jutta Wangemann.
„Die Sexualität ist eine unnötige, gefährliche und regressive Funktion.“
Warum haben wir Menschen Sex?
Eine einflussreiche evolutionäre Theorie für den Sex ist die Hypothese, dass wir vor etwas davonrennen. Sie verwendet das Bild von der „roten Königin“ aus „Alice hinter den Spiegeln“: Da gibt es die Szene, in der die rote Königin Alice an die Hand nimmt und mit ihr losrennt. Sie rennen und rennen, bleiben aber immer auf derselben Stelle. Alice sagt: Merkwürdig, wenn ich in meiner Welt renne, bin ich danach immer woanders. Da sagt die Königin: Hier in unserer Welt muss man immer rennen, um an derselben Stelle zu bleiben. Die Biologie sagt: Auch in unserer Welt müssen wir vor etwas davonrennen, wenn wir überleben wollen, und das sind unsere Parasiten und Pathogene: Keime, Viren, Bakterien, Würmer. Sie verfolgen uns, um sich an uns anzupassen und uns zu verzehren. Ihre Generationszeit ist wesentlich kürzer als unsere. Ein Parasit, der sich an uns angepasst hat, kann natürlich auch unsere Nachkommen schädigen, wenn sie genau so sind wie wir, er ihre speziellen Eigenschaften also schon bei uns „erlernt“ hat. Unser Organismus befindet sich also in einem Wettlauf gegen die Krankheitserreger. Deshalb müssen wir mit jeder neuen Generation uns mit den Artgenossen, die uns umgeben, mischen. Wenn wir dann durch das Mischen unserer genetischen Information immer neue Variationen zwischen den Nachkommen erzeugen, also wenn wir uns sexuell reproduzieren, laufen wir den vorherrschenden Erregerstämmen, die uns laufend lesen lernen, davon. Wir haben Sex, weil unsere Gene, um über Generationen überleben zu können, Gene finden müssen, mit denen sie sich mischen können. Wahrscheinlich verdanken wir unser Liebesleben den Parasiten.
„Eine seltsame Idee, sich fortzupflanzen, wenn man das Leben nicht liebt.“
Warum gibt es Männer und Frauen?
Die Idee, warum es zwei Geschlechter gibt, hat ökonomische Gründe: Wenn ich eine bestimmte Menge Energie zur Herstellung von Keimzellen zur Verfügung habe, existieren zwei mögliche Strategien: Entweder produziere ich weniger größere Zellen, die mich jeweils mehr Energie kosten. Oder ich mache viele kleinere Zellen, die jeweils billiger sind. Bei der Reproduktion begünstigt die Selektion zunächst die Produzenten kleiner Keimzellen. Diese Individuen haben für die Fortpflanzung erst einmal bessere Chancen, denn sie haben mehr Lotterietickets gekauft. Das Problem ist aber: Wenn alle Individuen kleine Keimzellen produzieren, dann fusionieren nur zwei kleine Zellen miteinander. Das Ergebnis ist dann klein und überlebt nicht so gut, als eine größere Zelle. Wenn umgekehrt zwei große Keimzellen verschmelzen würden, bekäme man zwar eine schön große Zelle. Diese würde zwar auch besser überleben als die dritte Option – eine Mischung zwischen einer größeren und einer kleineren Zelle – aber das passiert nur selten weil die kleinen zahlreicher sind und sich dadurch die wenigen Großen schneller schnappen. Kurzfristig sieht es so aus, als hätten die Produzenten der vielen kleineren Keimzellen beim Konkurrieren um Verschmelzung den Vorteil. Aber längerfristig werden auch die Produzenten weniger großer Keimzellen belohnt: Sie werden zwar gewissermaßen gezwungen, größere Eizellen zu machen, weil sie die Größe des Fusionsproduktes groß genug halten müssen, sind für die kleineren als Fusionspartner aber unverzichtbar und daher gefragt. Das beutet: Diejenigen Individuen, die die kleinen Keimzellen machen, zwingen die anderen, größere zu machen. Sie parasitieren also deren Investition. Die, welche die kleineren Keimzellen machen sind die Männchen. Und die größeren Keimzellen machen die Weibchen aus. Die Männchen sind Parasiten der weiblichen Investition.
Durch diese Konkurrenz zwischen den Keimzellen entwickelt sich dann also eine Population, in der es zwei Arten gibt sich fortzupflanzen: mach ich Kleine, bin ich Männchen, und mach ich Große bin ich Weibchen. Jetzt stellt sich aber aus der Sicht der Evolution die Frage: Machen die einen nur das eine, und die anderen das andere? Oder machen beide beides? Und was bin ich dann? Oder fangen sie manchmal an, zuerst das eine zu machen, und dann später machen sie das andere weiter, wie es bei bestimmten geschlechtswechselnden Fischen der Fall ist? Nun hat es sich für den Menschen (und die meisten anderen Tiere) wegen der Parasiten für sinnvoll erwiesen, sich immer wieder auf vorher unberechenbare Weise zu mischen. Wenn aber die Idee ist, mit jemandem zu verschmelzen, der anderes Erbmaterial mitbringt als ich selbst, dann brauche ich jemanden, der für mich als anderer erkennbar ist. Und ich brauche einen Mechanismus, mit dem ich mich selber erkennen kann, um mir beim Sex aus dem Weg zu gehen. Ich könnte das jetzt ausbauen, und könnte ganz viele Typen machen, wie einige Arten das tun: Wimperntierchen (Ciliaten) zum Beispiel haben dutzende Geschlechter! Da kann einer mit fast jedem! Sie fusionieren aber nicht komplett, sondern machen es wie die Bakterien, sie gehen aneinander und tauschen bestimmte Informationen aus. Der Austausch der Erbinformation gestaltet sich für uns ganz anders. Wir haben nur zwei Geschlechter, wie fad, verglichen mit den Ciliaten. Der menschliche Organismus hat eine Prozedur, wie er die Hälfte von dem, was er an Genen hat, ganz feinsäuberlich halbiert: Wir machen zwei verschiedene Keimzellen: Spermien und Eier. Und wir haben in jeder Zelle einen Zellkern mit zwei Kopien als Erbinformation: einer von der Mutter und einer vom Vater. Bei Verschmelzung und anschließender Zellteilung müssen wir das wieder auseinanderklamüsern. Die Maschinerie, die das aufteilt, muss so gebaut sein, dass dabei alles gleich und redlich geteilt wird.
Aber es gibt noch weitere genetische Einheiten in unseren Zellen, die Mitochondrien. Man nennt sie auch Kraftwerke der Zelle. Es handelt sich dabei um ein Bakterium, das wir uns im Laufe der Evolution irgendwann eingefangen haben, vor vielen Milliarden Jahren, das wir domestiziert haben und das jetzt in jeder unserer Zellen lebt und für uns arbeitet. Wir haben nämlich in unserer Evolutionsgeschichte immer mal wieder Gene gestohlen. Wie wir diese gestohlenen Gene auseinander klamüsern, ist weit weniger klar, denn wir haben es erst dazu genommen, als die Regeln unserer Auseianderklamüsermaschine (Mitose und Meiose) schon entwickelt waren. Wir haben kein so gutes System dafür erfunden. Wenn wir nun zwei Zellen, die jeweils solche gestohlenen Gene mitbringen, zusammentun, weil wir sie nicht auseinander klamüsert bekommen, können aufgrund des nicht ebenbürtigen Beitrags Konflikte entstehen. Deshalb gibt es die Erfindung, dass nur einer etwas mitbringen darf und wir etwas anderes draußen lassen. Und dadurch haben wir jetzt zwei, und nur zwei Typen. Unsere bakteriellen Mitbewohner weisen unsere Sexualität also in die Schranken.
„Eine aus Frauen bestehende Welt wäre in jeder Hinsicht überlegen.“
Ist Klonen eine gute Idee?
Die ganze Zeit finden Mutationen unseres Erbguts statt. Die Informationen ändern sich ständig, weil Kopieren Fehler verursacht. Zwar bedeuten diese Veränderungen oft eine Verschlechterung, gelegentlich aber auch Verbesserung der Information. Solange genügend Individuen die neue Generation erreichen, entscheidet sich im Wege der natürlichen Selektion welche davon weiter überleben. Obwohl es eigentlich den Hang runter gehen sollte mit uns, sind wir Zeugen, dass die Mischung unserer Gene die Rekonstruktion einer neuen Generation auf der Höhe der neuen Bedrohungen ermöglichen kann. Schließlich gibt es immer noch Leben auf dem Planeten.
Wenn man etwas klont, ist das neue Exemplar genauso, wie das vorherige war: Es kann sich keine Resistenz gegen neue Bedrohungen entwickeln – und die Parasiten freuen sich. Das lässt sich an gentechnisch erzeugten Pflanzen in der Agrikultur sehen: Das sind keine Klone, aber oft fixierte Kreuzungen zwischen zwei bestimmten genetischen Linien. Sie sind genetisch identisch. Auf einem Mais- oder Weizenfeld ist jeder gleich. Das ist die schönste Einladung, die du einem Parasiten machen kannst. Immer wieder fantasiert der Mensch von Erlösung durch die Abschaffung natürlicher Sexualität. Ihr verdanken wir aber wir unser Überleben. Vielmehr ist diese Vorstellung schon im Anfang anthropozentrisch. Der Biologe fragt: Erlösung wovon? Was für den Menschen als Art das Ende sein kann, ist für die Erde nur eine Veränderung. Katastrophen gibt es nur aus der Perspektive des Menschen. Cyanobakterien etwa haben vor knapp 2,5 Milliarden Jahren die Photosynthese entwickelt, worauf sie die Atmosphäre unseres Planet, auf dem es vorher kaum Sauerstoff gab, mit einem für die damaligen Lebewesen giftigen Gas angereichert haben. Darauf mussten sich alle massiv umstellen. Lebewesen haben die Welt schon immer umgebaut. Wir sind in nichts die ersten.
Ein Gedankenspiel: Ein Männchen und ein Weibachen machen zusammen zwei Nachkommen. Im Schnitt sind das wieder ein Männchen und ein Weibchen. Da jedes sexuell produzierte Individuum genau einen Vater und eine Mutter hat, lohnt es sich im Schnitt meist, genau gleich viel Energie in die beiden Geschlechter zu investieren. Jetzt nehmen wir an, ein lustiges Weibchen hat die Fähigkeit, sich durch Parthenogenese, also durch Jungfernzeugung – die bei Wirbeltieren allerdings nicht möglich ist – fortzupflanzen. Dann macht dieses Weibchen zwei Weibchen, und weil sie genetisch identisch sind, haben auch diese die Fähigkeit zur Parthenogenese. In der nächsten Generation sind es also schon vier, dann acht, und bald schon tausende Weibchen. Man spart sich die Männchen. Angenommen, man startet mit einer Millionen Menschen und einem solchen Weibchen, dann dauert es etwa 40 Generationen, bis die sexuell reproduzierten Individuen dieser Art mit ihren Männchen verdrängt sind. Von diesem Beispiel aus wissen wir: Finge der Mensch an, sich zu klonen, gäbe es innerhalb etwa 40 Generationen offenbar nur noch Klone. Der Mensch hätte folgerichtig 40 Generationen Zeit, um den oben erwähnten Wettlauf gegen die sich ständig anpassenden Parasiten mit einem Sieg zu beenden. Wenn wir anfangen, uns zu klonen, handeln wir uns also ziemlich schnell ein ziemlich großes Problem ein. Der Ansatz einer quantitativen Antwort: Das Klonen von Menschen ist wohl keine gute Idee.
„Der Mensch ist nicht fähig, den Tod hinzunehmen: weder seinen eigenen noch den der anderen.“
Warum stirbt man?
Weil es sich nicht lohnt, nicht zu sterben. Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Gründe, warum man stirbt: Entweder extrinsisch, durch Einwirkung von außen – jemand frisst einen auf oder man fällt irgendwo runter oder man wird vom Auto überfahren. Oder intrinsisch, dann geht in unserem Organismus irgendetwas kaputt. Weil Unfälle passieren, lohnt es sich nicht, eine Maschine zu konstruieren, die nicht kaputt geht. Denn die Chance, dass du erlebst, dass das nicht Zerstörbare nicht kaputt geht, tritt nicht ein, weil du vorher schon nicht mehr da bist. Das bedeutet, die Maschine, die der Körper ist, muss nur so lange halten, dass du die Zeit, die du normalerweise hättest, gut durchlebst. Für uns heute heißt das: Die Tatsache, dass wir heute etwa doppelt so lange leben wie früher, führt dazu, dass wir die Hälfte unseres Lebens in einem Zustand verbringen, für den unsere Maschine gar nicht gebaut ist. Und dann geht natürlich allerhand schief.
Wenn du ein Tier machen musst, das nicht altert, bekommst du das hin, wenn die extrinsische Mortalität sehr gering ist, dann können sie wahnsinnig lang leben, so wie zum Beispiel die Riesenschildkröten auf Galapagos. Altern ist also verständlich, wenn auch nicht sinnvoll. Gewisse Leute haben früher argumentiert, dass man altert, damit wieder Platz ist für die Jungen. Das ist Unsinn, denn wenn es sich für die Alten lohnen würde noch länger zu leben, dann können ihnen die Jungen egal sein. In Wirklichkeit ist der Grund für das Altern also, dass du nie dahinkommst, wo es sich lohnen würde, nicht zu altern. Es gibt in der Biologie keine Perfektion. Es gibt nur, um es auf Englisch zu sagen, „the survival of the barely tolerable“. Das sind die, die gerade gut genug sind, dass es geht. Das musst du erreichen.
„Das menschliche Dasein ist enttäuschend, voller Beklemmung und Bitterkeit.“
Was ist Leben?
Es ist nicht so leicht, das zu definieren. Man könnte sagen: Die Fähigkeit, sich selbst vervielfältigen zu können. Und man müsste das nicht zwingend auf die DNA reduzieren. Es könnte Leben geben, das auf einer anderen Art von kodierter Information, die selektiert wird, beruht. Aber die natürliche Selektion ist wohl die Grundlage eines jeglichen Lebens. Es wäre allerdings auch kein Problem, wenn morgen herauskäme, dass das Leben auf einem anderen Planeten entstanden ist. Hauptsache ist: Es ist entstanden. Wenn wir immer nur in der DNA suchen, dann entdecken wir zwangsläufig keine andere Basis von Leben. Komplett statisch geht es jedenfalls nicht, weil es kaputt gehen kann. Das Selbstkopieren ist der Schlüssel zum Überleben, weil es Dynamik ermöglicht. Veränderung ist der Biologie immanent. Der Mensch entwickelt sich auch dann biologisch weiter, wenn der Selektionsdruck fehlt. Veränderung kann auch Degeneration bedeuten, zum Beispiel, wenn wir in Abhängigkeit von etwas geraten, das nicht immer verfügbar ist. Die kulturelle Weiterentwicklung unserer Apparaturen kann uns streng genetisch zum Nachteil gereichen.
In dem Moment, in dem wir Menschen die biologische Selektion selber machen können, weil wir zum Beispiel verstanden haben, wie Vererbung funktioniert, brauchen wir einen Plan davon, wie der Mensch in Zukunft sein soll. Wenn wir eine Vorstellung in die Zukunft projizieren, entsteht die Kategorie des Fehlers. Die Natur kennt Fehler nicht, weil sie ausschließlich im Jetzt selektiert. Sobald wir Menschen einen Plan machen, brauchen wir Entscheidungskriterien. In dem Augenblick, in dem wir die Entscheidungskriterien der Natur ablehnen und es „besser“ machen wollen, entsteht Moral. Werte innerhalb der Ökonomie der Biologie und Werte des moralischen Menschen können nur zufällig dieselben sein. Wenn wir versuchen, die natürliche Selektion zu kontrollieren und damit auch zu lenken, wissen wir im größeren Rahmen der Evolution nicht, was wir tun. In der Evolutionsbiologie verstehen wir nicht vollständig, was die Selektionsdrücke waren, denen wir in der Hauptzeit unserer Evolutionsgeschichte ausgesetzt waren. Deswegen verstehen wir verdammt wenig darüber, warum wir so sind, wie wir sind. Je mehr wir über die anderen Tiere wissen, desto weniger speziell wird außerdem der Mensch. Der Mensch ist nur eine Art von vielen.
Als Mensch könnte man allerdings sagen: Es wäre „schade“, wenn der Mensch aussterben würde. Für die Erde wäre das kein Drama. Aber wenn es denn so wäre, dass wir die Welt anders sehen könnten, als die anderen Lebewesen, mit unseren Sinnen anders erfahren, dann wäre es schade, wenn das verloren ginge. Damit ginge eine Perspektive, eine Draufsicht verloren, die zum Beispiel Schönheit – losgelöst von ihrer biologischen Funktion – feststellen kann. Wenn wir diese besondere Begabung hätten, die Welt so zu sehen, wäre es schade, wenn unsere Spezies verschwindet. Wir wollen ja immer etwas finden, in dem wir speziell sind, uns von den Tieren distanzieren. Wenn wir die Fähigkeit hätten – aufgrund der Tatsache, dass wir die Welt „schön“ finden können – eine Art des Umgangs mit dieser Welt zu finden, die es zulässt, dass wir hier sein können, dann wäre das speziell. Diese Fähigkeit wäre wohl wirklich etwas noch nie Dagewesenes. Eine Voraussicht der längerfristigen Perspektive des eigenen Existierens hier – das wäre wirklich etwas ganz Neues. Die Biologie sagt: Dieser Kampf, alles, was wir sehen, diese Farben – das ist alles Sex. Der Mensch kann sagen: Das ist schön.