24. Januar 2009

Hier wird der Bettler-Chor nicht gespielt, hier ist er richtig echt

Gestern Abend hatte die "Bettleroper" von Bernadette La Hengst Premiere – und zwei Drittel der Mitwirkenden sind Fachleute in Sachen Armut

Die Avantgarde-Bettler mit Bernadette La Hengst (hinten) Foto: bamberger

Letzte Probe vor der Premiere. Einer trommelt im Kleinen Haus des Theaters auf einer Mülltonne den Rhythmus. Der Chor singt begeistert: "Wir sind Avantgarde-Bettler." Schließlich haben sie einen Vorsprung gegenüber denen, die der Zusammenbruch des Geldsystems nun bettelarm machen wird. Denn sie sind längst Spezialisten für Armut – diese Arbeitslosen, diese Hartz IV-Empfängerinnen, diese Wohnungslosen. Die ihr ein unübersehbares Gesicht geben, dieser "Bettleroper", die gestern Abend Premiere hatte.

"Da können wir unsere Erfahrungen aus unserem Leben gut einbringen", sagt die 23-jährige Jeanette, arbeitslose Physiotherapeutin. "Und wir hoffen, dass die Leute mitkriegen, was mit uns gemacht wird", ergänzt Dietrun, 42 und ebenfalls arbeitslos, "vielleicht denkt dann mal jemand darüber nach." Theater mit Anspruch also – das war auch die Absicht von John Gray, dessen Oper "The Beggar’s Opera" 1728 in London uraufgeführt wurde und die der englischen Bourgeoisie den Spiegel vorhalten wollte. Bertolt Brecht hat daraus 200 Jahre später seine "Dreigroschenoper" gemacht. Und nun hat die Berliner Künstlerin Bernadette La Hengst den Stoff für ihre "Bettleroper" genutzt. Die ist ein Schauspiel mit Musik, das seine jetzige Gestalt erst im Zusammenwirken von elf Fachleuten fürs Leben in Armut mit sechs Profi-Schauspielerinnen und -Schauspielern unter der Regie von Christoph Frick angenommen hat.
"Wir sind ein Team", sagt George, 39 und arbeitslos, "und die vom Theater interessieren sich sehr für unsere Situation, um sich in unsere Lage versetzen zu können." So ließen sich die Theaterleute unter anderem auf eine etwas andere Stadtführung mit Uli Hermann von der Straßenzeitung FreieBürger ein, lernten, wo und wie am besten gebettelt wird, besuchten Anlaufstellen wie Pflasterstub’, Ferdinand-Weiß-Haus und Freiraum. "Es war ein gemeinsamer Weg", sagt die Dramaturgin Carolin Hochleichter, "ein Weg, den wir eben nicht nur mit Schauspielern, sondern auch mit Experten und ihrer Lebenserfahrung gehen wollten – es war ein Riesenereignis für uns."

"Hier mitzumachen, das ist eine gute Erfahrung", meint Wolfgang, 59, und Hartz IV-Empfänger. "Man lernt andere Leute kennen, die sich für einen interessieren." Lampenfieber hatte er gestern Nachmittag kurz vor der Premiere so wenig wie die anderen. Dafür ist ihnen zu wichtig, was sie mit ihrem Auftritt verbinden. Dietrun: "Wir wollen zeigen, dass wir was können und dass wir nicht die Idioten sind, für die uns viele halten." Doch es ist auch noch mehr, spricht George im Namen aller: "Für uns ist es natürlich auch ein Spaß und eine Chance, mal im Theater mitzuspielen – ich find’s geil, dabei zu sein."

Auf der anderen Seite ist Carolin Hochleichter überzeugt: "Ein Stadttheater ist eine Bühne, um über solche Themen wie Armut in der Stadt zu reden." Und nicht nur zu reden. Während der Thementage "Armut in Deutschland" vom 13. bis zum 15. Februar ermöglicht das Theater Hartz IV-Empfängern den Besuch aller Aufführungen für jeweils 3,50 Euro. 
Bettina Schulte                      

 

25. Januar 2009

„Bettleroper“ in Freiburg - Später gibt es Suppe

 

Recherche in der Bahnhofsmission und unter Flaschensammlern: Das Theater Freiburg übt sich mit einer "Bettleroper" in sozialer Zuwendung. Mit Blockflöten und Liedern von Bernadette La Hengst.

 

Am Abend der Premiere ist es kalt in Freiburg. Im Kleinen Haus des Theaters Freiburg rückt man für die "Bettleroper" zusammen, alle sind sie da, die lokale Politprominenz, Hartz-IV-Empfänger, das Premierenpublikum. Manche werden von den Darstellern auf der Bühne mit Handschlag begrüßt. Später wird es für alle Suppe geben.

Eine Litanei ist vom Band zu hören, die für jene um Vergebung bittet, die lügen und falsch sind und die auf ihren Musiksendern sexistische Videos laufen lassen. Ein Mann im Trenchcoat, die Lesebrille in der Hand, quetscht sich durch die Reihen und gibt den Zuschauern Anweisungen. "Kein Popreis, äh, Popcorn, später können Sie ja ins Kino gehen." Gehört das schon zur Inszenierung von Christoph Frick? Es gehört.

Solche Irritationen wird es im Verlauf des Abends noch des Öfteren geben. Hat sich das Team um den Regisseur und die Berliner Musikerin Bernadette La Hengst doch zur Recherche in die Welt der Bahnhofsmission und Kleiderläden aufgemacht und elf Hartz-IV-Empfänger, ehemalige Flaschensammler und Wohnungslose eingeladen, den Bettlerchor zu geben. Armut in Freiburg - das passt zwar weder recht ins Selbstbild der Breisgaumetropole, die sich als Wohlfühlstadt inszeniert, noch in die Wahrnehmung der Touristen und Durchreisenden. Doch es gibt sie, zwischen 600 und 800 Menschen haben in Freiburg kein festes Mietverhältnis.

Armut hat viel mit Scham zu tun. Aber auch mit Abgrenzung, erst recht während einer Wirtschaftskrise, die den Mittelstand um Arbeit und Ersparnisse bangen lässt. Christoph Frick zwingt die Zuschauer, genauer hinzusehen, die Bedürftigen einmal nicht als Verkörperungen der eigenen Abstiegsängste wahrzunehmen, sondern die Gesichter, die jeweiligen Eigenarten, aber auch ihr Potenzial zu erkennen. Von den konkreten Lebensgeschichten erfährt man dabei eher am Rande, Christoph Frick bedient keinen Voyerismus. Er nutzt die Vorlage von John Gays "Beggars Opera" als ästhetische Form, die Distanz schafft.

Ähnlich verallgemeinern die Lieder von Bernadette La Hengst, die für tanzbaren Agitpop und radiotaugliche Globalisierungskritik bekannt ist. Bereits im Juni 2007 war die Musikerin Gast am Freiburger Theater und gab mit Pastor Leumund und Bewohnern eines Altenstifts einen Abend über Utopien. Sie selbst hat in den 80er-Jahren als Schauspielerin in freien Produktionen mitgewirkt. Ihre Lieder, darunter ein Song zum Grundeinkommen, sind musikalisch reduzierter als man es von ihr kennt. Hannes Moritz begleitet die Sängerin und Gitarristin am Schlagzeug, Frank Albrecht ab und an auf der Blockflöte und Nicola Fritzen bearbeitet eine Mülltonne.

Einmal steht das gesamte Ensemble um die zusammengestellten Tische, auf denen eine Stadt aus Klötzchen gebaut ist (Bühne und Kostüme: Clarissa Herbst). Die Schauspieler befragen den Bettlerchor, Experten im Überleben, wo man unterkommen kann, wo es Kleidung, verbilligte Lebensmittel gibt und welche Sätze Passanten am ehesten zum Spenden bewegen.

Ansonsten ist viel Staatstragendes von den sechs Schauspielern zu hören, die an der vorderen Reihe an Tischen Platz genommen haben, während die Laien hinten sitzen. Später wird Bettina Grahs versuchen, am Pult einen Hartz-IV-Antrag auszufüllen, und wir werden erkennen, dass eine Bedarfsgemeinschaft überall sonst auf der Welt - nur nicht in der deutschen Behördensprache - eine Liebesbeziehung meint.

Was Verzicht bedeuten könnte, macht das Schauspielerensemble fühlbar, indem es die Jugendstilwohnung, den Urlaub auf den Kanaren, aber auch die Bücher, das Bett und das letzte Hemd in den Ring wirft. Das sind die Momente, in denen auch im Publikum die vermeintliche Sicherheit Schicht um Schicht abfällt und die psychische Dimension des Existenzminimums erkennbar wird.

Seit Barbara Mundel 2006 die Leitung des Theaters Freiburg übernahm, wird auf seinen Bühnen viel diskutiert. Im letzten Sommer kochten, saunierten und debattierten Wagenburgbewohner vor dem Theater mit den Bürgern der Stadt; nur einen Tag nach der Premiere der "Bettleroper" standen Roma-Jugendliche gemeinsam mit deutschen Jugendlichen auf der Bühne. Ein Hauch sozialer Utopie weht durch das Theater, auch in Christoph Fricks Inszenierung, die mit viel guter Laune zu einem neuen Miteinander auffordert.

Und doch ist das Theater keine politische Anstalt, sondern allenfalls Anstifter. Es bleibt ein Ungenügen zurück, schlicht, weil die sozialen Probleme nicht gelöst sind. An das Programmheft ist ein Schild aus Wellpappe getackert. "Thank you" steht darauf, für den unverzüglichen Einsatz in der Fußgängerzone. Man ist an diesem Abend wirklich sehr fürsorglich zueinander.

Annette Hoffmann

 

Bettleroper

Phänomenologie eines sozialen Zustands

von Jürgen Reuß

 

Freiburg, 23. Januar 2009. "Wir stecken mitten in einer Krise […], weil wir als Kollektiv versäumt haben, harte Entscheidungen zu treffen und diese Nation auf die neue Zeit vorzubereiten", sagte Barack Obama in seiner Antrittsrede. Das Theater Freiburg nimmt dieses Zitat nicht nur als Motto für seine jüngste Premiere, die "Bettleroper", sondern hat es mit diesem Schauspiel bereits umgesetzt.

Denn bevor Obama seine Rede überhaupt gehalten hat, haben sich sechs Schauspieler sechs Wochen lang mit Armut als der kommenden Leitkultur beschäftigt und ihre Erfahrungen unter der Regie von Christoph Frick und mit Hilfe von Freiburger Expertinnen und Experten – Hartz 4-Empfänger, Bauwagenbesitzer, (ehemalige) Bettler und Flaschensammler – zu einem "musikalischen Training" für die neue Zeit gebündelt. Die Popmusikerin aus der Hamburger Schule, Bernadette La Hengst, besorgte den passenden Soundtrack und formte aus den Armutsexperten einen Bettlerchor.

 

Volksküche Theater
Eine solche andere Form der Theaterarbeit sorgt am Premierenabend auch gleich für eine andere Atmosphäre. Heißt es sonst eher: Drinnen nur Bürgerkultur, Armut bitte draußen lassen, sind heute Obdachlose und Flaschensammler die Gastgeber. Sie weisen den Weg und helfen den Zuschauern ihre Plätze zu finden. Das heißt, das mit "Drinnen nur Bürgerkultur", wäre für das Freiburger Theater unter Intendantin Barbara Mundel eine unfaire Beschreibung.

Seit ihrem Amtsantritt versucht ihr Team beständig, die üblichen Grenzen des Theaters zu verschieben. Es inszeniert in umliegenden Dörfern, mit Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten oder stellt ein Roma-Theaterprojekt auf die Beine. Das hat auch eine Verschiebung im Premierenpublikum zur Folge. Zur Bettleroper mischen sich weitere Armutsexperten und Bernadette-La-Hengst-Fans unter die üblichen Gesichter.

Das Tisch-Stuhl-Ensemble der Bühne (Clarissa Herbst) wirkt wie eine Mischung aus letztem Abendmahl, Schulungszimmer und Volksküche. Bernadette La Hengst schrammelt auf der Gitarre, ein Experte trommelt unglaublich cool auf dem Schlagzeug. Die Bühne sortiert sich, vordere Stuhlreihe die Schauspieler, hintere Reihe der Bettlerchor. Es folgt zunächst die Anklage gegen die professionellen Geldverbrenner aus der Banken- und Politbranche. Der erste Song rollt an: "Wo kriegen sie die Millionen her? Vom Staat. Und wer hat den gewählt? Das ist doch unser Geld."

 

Musikalische Leitfäden fürs kommende Prekariat
Dann wird das Expertenwissen ausgebreitet: Wie bettelt man erfolgreich, wo bekommt man eine Suppe, wo Kleidung, wo ein Bett? Welche Formulare muss man ausfüllen, welche Fragen stellen die da? Kann ich als Student auch Hartz 4 bekommen, ist Kindergeld Einkommen? All das wird mal als Verwaltungslitanei, mal als Interview, mal im Vier-Augen-Gespräch mit dem Publikum, mal hinausgeschrien, mal hingebrabbelt serviert. Im Hintergrund wird ein Chili con carne zubereitet, zu dem das Publikum nach der Vorstellung auf der Bühne eingeladen wird.

Zwischendurch immer wieder ein La-Hengst-Song, ein musikalischer Leitfaden fürs kommende Prekariat mit Titeln wie "Mitleid", "Abstieg", "Grundeinkommen Liebe", "Flaschenfolk", "Angst als Antrieb" oder "Avantgarde Bettler". Ein peppiger Abend, der auf unterhaltsame Weise einen Reiseführer der Armut für Freiburg erstellt und die Erodierung des Selbstwerts in der Hartz 4- Verwaltungsmühle fühlbar macht. Ein Abend, der funktioniert, weil die Laiendarsteller als Phänomenologen eines sozialen Zustands auftreten und sich nicht als individuelle Freaks exhibitionieren müssen.

Und weil sie dafür, dass sie ihre Gesichter, in denen mehr Geschichten zu lesen sind, als an diesem Abend erzählt werden, öffentlich machen, von den Schauspielern dadurch etwas zurückbekommen, dass diese hinter ihren Rollen hervorkommen, Persönliches preisgeben und sich im wahrsten Sinne des Wortes nackt auf die Straße wagen. Ein stimmiger Abschluss also, dass auch dem Publikum im zweiten Teil des Abends Gelegenheit gegeben wurde, selbst das bisschen Mut aufzubringen, sich mit allen Akteuren gemeinsam an den Tisch zu setzen.