17.09.2018, Nr. 216, S. 34

Das Erbe der Gewalt

 

Christoph Frick zeigt "Das weiße Band" in Darmstadt

 

Grauenvoller kann es kaum sein. Der Vater, der die Kinder brutal züchtigt, erklärt ihnen vorher noch, sie seien doppelt schuld: Nicht nur wegen ihres Vergehens, sondern auch, weil er sie nun strafen müsse, was ja ihn, den Vater, belaste. Nicht ein einzelner irrer Vater, sondern eine ganze Generation missbilligender, bösartiger, brutaler Erwachsener, die mit ihren eigenen Fragen, mit einer Gesellschaft und Zeit, die sich wandelt, nicht einmal ansatzweise zu Rande kommt und daher die Jugend ihrer Kinder in ein brutales Boot Camp verwandelt, in dem Züchtigungen als Zuneigung zu gelten haben und absolut nichts nach außen dringen darf.

 

So sieht sie aus, die Welt in "Das weiße Band", dem Film, den sein Regisseur Michael Haneke 2009 mit dem Zusatz "Eine deutsche Kindergeschichte" versehen hatte. Auch Christoph Frick lässt am Anfang seiner Adaption von Hanekes Drehbuch, die jetzt am Staatstheater Darmstadt uraufgeführt worden ist, ein ums andere Mal den Satz sagen: "Aber dennoch glaube ich, dass ich die seltsamen Ereignisse, die sich in unserem Dorf zugetragen haben, erzählen muss, weil sie möglicherweise auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen können."

 

Nur meint er nicht ganz so eindeutig das Jahr 1913, in dem Haneke seine Geschichte angesiedelt hat. Wiewohl die Pferdeleiche, wie sie schon bei anderen, etwa den Ballets C de la B, als Bild des sinnlosen Schlachtens im Ersten Weltkrieg gedient hatte, gleich zu Beginn krachend vom Bühnenhimmel fällt. Da stürzt der Arzt auf dem Heimritt über ein Stück Draht, die erste einer Reihe grausamer Taten in dem kleinen Dorf. Den ganzen Abend über hängt der Kadaver dräuend von der Decke - gerade so wie das Kohlfeld des Herrn Baron von Anfang an die Assoziation eines Schützengrabens weckt. Zum Schluss quellen die Kinder daraus hervor, verdreckte, unkenntliche Körper, die, wenn nicht in diesem ersten Krieg, dann im nächsten Täter und Opfer sein werden. Mit dem Kinderchor des Staatstheaters, zunächst brav weißgekleidet und immer wieder "Ich bete an die Macht der Liebe" singend, hat Frick ein prima Bild gefunden. (...)

 

Dass in Mehrfachbesetzungen alle Rollen, auch die der Kinder-Täter und Kinder-Opfer, ausgesprochen virtuos vom erwachsenen Ensemble (Yana Robin La Baume, Gabriele Drechsel, Jessica Higgins, Karin Klein, Ben-Daniel Jöhnk, Samuel Koch, Daniel Scholz, Jörg Zirnstein und Matthias Znidarec) gespielt werden, ist ein weiterer kluger Kunstgriff. Bisweilen verwirrend, meist aber vielschichtig: Wenn der brutale Pfarrer (Jöhnk) binnen Sekunden zum gequälten Sohn des Gutsherrn wird, der die eigene Tochter vergewaltigende Arzt zum Kind (Koch), scheinen die Kehrseite der Brutalität auf und die Traumata der Kindheit, die in den Erwachsenen fortleben. Und im White Cube (Bühne und Kostüme Viva Schudt), der fast ohne Abgänge des Ensembles bespielt wird, sind die Möbel überdimensional groß, ist die riesige Tür mit einer unerreichbar hohen Klinke ausgestattet. Im Lauf des Abends wird die gleißende Weiße beschmutzt, wenn einige - längst nicht alle - Stufen des Horrors der Geschichte in eindringlichen, aber nicht eindeutigen Bildern gespielt werden. Ein paar Fackeln für den Scheunenbrand, ein paar blutige Striemen auf nackter Haut, angedeutete Gesten reichen.

 

Ohne die Landschaft, das Wetter, all das Äußere, das Haneke für den Film so akribisch hatte nachbauen lassen, ist "Das weiße Band" keine gar so "deutsche" Geschichte mehr. Mag auch das Programmheft über "Othering", "Herrenmenschen" und deutsche Geschichte nachdenken - auf der Welt gibt es viele, allzu viele Gesellschaften, in denen überforderte Erwachsene, Männer zumal, ihr Heil in der Unterdrückung von Kindern und Frauen suchen und Traumata vererben. Man kann also durchaus den Assoziationsraum weit, sehr weit öffnen aus diesem schwarzweißen Geviert heraus. Und das ist die große Stärke dieses Abends.

EVA-MARIA MAGEL


 

Staatstheater Darmstadt Im Innersten beschädigt

Christoph Frick bearbeitet Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ für die Theaterbühne.
Foto: Robert Schittko
Was macht Menschen anfällig für Ideologien? Die Gretchenfrage der Gegenwart hat der Schweizer Regisseur Christoph Frick in seiner Bearbeitung von Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ am Staatstheater Darmstadt herausfordernd klar ausgearbeitet. Wie die Filmvorlage spielt sein Stück zwar kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Nähe zur Gegenwart ist jedoch konstant spürbar.
Schon der erste Blick auf die Bühne schafft Unbehagen. Mobiliar und Wände sind in Weiß getaucht und auf Hochglanz poliert. Kein Staubkorn darf sich hierher verirren. Tisch und Stühle sind überhoch und etwa der Blickperspektive von Kindern nachempfunden. Die Szene, von Viva Schudt gestaltet, spiegelt prägnant die Grundstimmung von Hanekes Film wider, der 2009 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden ist. Alles hat korrekt zu sein. Es gibt nicht einmal einen Teppich, unter den man Unliebsames verschwinden lassen kann. Der Innenraum, in dem sich das Leben eines ganzen Dorfes abspielen wird, wirkt nahezu zeitlos. Die beiden überdimensionierten Drehstühle mit fünfgliedriger Basis dürften jedoch den Sicherheitsnormen der Jetztzeit entsprechen.
Christoph Frick gelingt es an diesem Ort, die Geschichte des komplexen Films auf Bühnenproportionen zu übertragen. Das erfordert beim Zuschauer allerdings ein nahezu kriminalistisch geschultes Gedächtnis und die Bereitschaft, sehr genau hinzuhören. Denn in schnellen Sequenzen, die Filmschnittfolgen nachempfunden sind, wird der Handlungsfaden ausgerollt. Erzähler schildern ihre Sicht der Dinge. Sie geben an, was gerade geschieht oder von ihnen selbst Sekunden später ausgeführt wird. Bewegung erfolgt also nicht durch Ortswechsel, sondern durch erzählten Szenenwechsel. Jeder der neun Schauspieler muss dabei in atemberaubend schneller Abfolge eine Vielzahl unterschiedlicher Rollen übernehmen. Das gelingt meisterhaft. Im Kopfumdrehen verwandelt sich beispielsweise der Erwachsene in ein Kind, der Arzt in den Hauslehrer (Samuel Koch), die Pfarrersfrau in einen Gendarm (Gabriele Drechsel) oder die Hebamme in Tochter Klara (Jessica Higgins).
Sie alle bilden eine eingeschworene Gemeinschaft, die vom Pfarrer (Ben-Daniel Jöhnk), ihrem „geistigen Führer“, und dem Baron (Daniel Scholz), ihrem materiellen Herrn, angeleitet und massiv unter Druck gesetzt wird. Ein Unglück bringt Bewegung in den Untergrund dieses statischen Gefüges. Der Arzt des Dorfes erleidet nach einem Ausritt zu Pferd einen Unfall. Unbekannte hatten einen dünnen Draht ausgespannt. Drastisch bricht durch die weiße Raumdecke ein toter Pferdekörper. Es ist die erste drohende Warnung, die nun an der Decke hängt und nicht mehr zu übersehen ist.
Die Serie unglückseliger, verbrecherischer Ereignisse reißt nicht mehr ab. Sippenhaft, erniedrigende moralische Züchtigung und sexueller Missbrauch durch Vater und Arzt – für all das findet Regisseur Christoph Frick kraftvolle Bilder, die ein zunehmend surreales Ambiente entfalten. Die Leidtragenden dieser destruktiven Dorfstrukturen, für die alle Erwachsenen Verantwortung tragen, sind die Kinder. Der Jugendchor des Staatstheaters (Einstudierung: Elena Beer) gibt diese zentrale Gruppe des Stücks. In weißen Kleidern wirken sie rein und unschuldig. Folgsam singen sie die angesagten Kirchenlieder. Überzeugend unbeschwert beleben sie die Bühne, hüpfen und lachen dort die ganze Theater-Pause lang. Doch gerade sie sind es, die die schmutzige Realität bereits in ihrem Innersten beschädigt hat.

 

Darmstädter Echo

 

Darmstädter Theater zeigt Uraufführung „Das weiße Band“

Von Stefan Benz
Michael Hanekes Drehbuch „Das weiße Band“ kommt in Darmstadt auf die Bühne. Die Uraufführung läuft nicht dem Filmvorbild hinterher, sondern überzeugt durch episches Theater.
Der Pfarrer (Ben-Daniel Jöhnk, rechts) erzieht seine Kinder mit kalter Strenge. Foto: Robert Schittko
DARMSTADT - Am Anfang ziehen die Kinder in weißen Kleidern durchs Parkett in ein steriles Riesenzimmer und singen „Ich bete an die Macht der Liebe“. Auch nach zweieinhalb Stunden werden sie wieder singen, doch da erinnert die Bühne eher an Schlachthaus und Schlachtfeld. Ein Pferdekadaver hängt durch die Decke, Bodenplatten sind aufgerissen, Erde quillt nach oben. Wo vorher noch Bauern gewühlt haben, krabbelt nun der Jugendchor des Darmstädter Staatstheaters ans Licht. „So nimm denn meine Hand“, singen sie und sind dabei verdreckt und zerzaust. Die Kinder, die in Michael Hanekes Geschichte das „Weiße Band“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs leben, scheinen sich nun aus Schützengräben und Gräbern zu erheben.
Für die bejubelte Uraufführung hat Regisseur Christoph Frick aus Hanekes Drehbuch über eine Dorfgemeinschaft, die zwischen Protestantismus und Patriarchat eifrig frömmelnd einen inhumanen Geist gebiert, mit starkem Formwillen ein Modellstück herausgearbeitet. Die Konstellation zwischen Adel, Bürgern, Arbeitern und Bauern ist zwar im Grunde überschaubar, dennoch wirkt das Geschehen für den Zuschauer zunächst unübersichtlich. Neun Schauspieler verkörpern 33 Rollen, darunter auch jene der Buben und Mädchen, die in dieser „deutschen Kindergeschichte“ (Untertitel des Kinofilms) insgeheim im Zentrum stehen. Ausstatterin Viva Schudt hat einen überdimensionalen Tisch und Stühle auf die Bühne gestellt, um die Perspektive der Kleinen zu markieren. Wer aber nun gerade wen verkörpert, versteht man nur nach und nach. Man muss sich schon sehr konzentrieren, um an diesem Abend mitzukommen. Doch es lohnt sich.
Schließlich erzählt „Das weiße Band“ so verdichtet wie bedrückend davon, dass eine Pädagogik der Unterwerfung durch rigide Regeln auch eine Erziehung zu unmenschlicher Härte gegenüber Schwachen und Außenseitern sein kann. Der Arzt stürzt mit seinem Pferd über einen Draht, der Sohn des Barons wird blutig geschlagen, das behinderte Kind der Hebamme verstümmelt. Aufgeklärt werden die Verbrechen nicht, doch als rückblickender Erzähler des Films mutmaßt der Lehrer, dass es die Kinder waren und dass ihre Erziehung zur Inhumanität zu den großen Dramen des 20. Jahrhunderts gehört.
Die Versuchung, diesen Gedanken ins 21. Jahrhundert und zur Blüte neuer autoritärer Systeme zu verlängern, ist groß. Christoph Frick muss das nicht extra betonen. Er setzt ganz auf sein episches Theater, bei dem die Schauspieler kaum in ihre Figuren eindringen, sondern ihre Rollen eher vor sich hertragen, um sie schnell wechseln zu können. Eben noch ein Mädchen, das sich unter Stockschlägen krümmt, ist Jessica Higgins mit einem leisen Schrei im nächsten Moment die Hebamme, die ein Neugeborenes im Arm hält. Eben noch der Pfarrerssohn unter Onanieverdacht, der nachts ans Bett gefesselt wird, ist Daniel Scholz im nächsten Moment der Baron und dann der wütende Bauerssohn, der mit den Baseballschläger um sich haut, weil seine Mutter bei der Arbeit auf dem Gut gestorben ist. Ein Ensemble im fliegenden Personenwechsel. Mathias Znidarec als Lehrer und Ben-Daniel Jöhnk als Pfarrer liefern sich am Ende dieses Pädagogikkrimis die große Konfrontation zwischen Verdacht und Vertuschung.
So wie die Bühne mit den Riesenmöbeln die Sicht der Kinder vorgibt, so wie die Erzählung hier nicht nur Sache des Lehrers, sondern aller Figuren ist, ist auch die Pause nicht bloß Pause. Das Publikum kann rausgehen, doch wenn man sitzen bleibt, sieht man, wie der Chor Kinderspielen nachgeht. Und die Schauspieler pinseln ein Wandbild vom kleinen Dorf mit Kirche, Friedhof und Häusern zwischen den Begriffen „Anstand“, „Sitte“, „Rache“. Schwarz auf weiß ist dieses Panorama, wie die Bilder im Kino es waren. Das aber ist auch die einzige formale Verbindung zwischen Vorlage und Adaption. Hier wird kein Film auf die Bühne gespiegelt. In Darmstadt ist „Das weiße Band“ mit selbstbewusster Stilsicherheit ganz entschieden Theater.