Ein Steak wird gebraten: Sullivan Slift (Ben Daniel Jöhnk) und Pierpont Mauler (Johanna Eiworth) Foto: Korbel
Das Stück zur globalen Finanzkrise ist 80 Jahre alt. Man hat es Bertolt Brecht zu verdanken, den das deutsche Theater in den vergangenen Jahren allenfalls noch mit spitzen Fingern angefasst hat.
So ändern sich die Zeiten. Dem Freiburger Theater möchte man nun gern Hellsicht unterstellen: dass es "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" in den Spielplan genommen hat, als noch niemand ahnte,
wie rasant die Geldmärkte zusammenbrechen würden. Jetzt – bei der Doppelpremiere von Christoph Fricks Inszenierung auf der Hinterbühne des Großen Hauses – wirkte Brechts einerseits (in
parodistischer Absicht) von Schillers "Jungfrau von Orléans", andererseits von Zeitungsberichten über die Chicagoer und New Yorker Börse und seiner Marx-Lektüre inspirierte Auseinandersetzung mit
den "leuten die geschäfte machen" fast schon gespenstisch aktuell.
Das ist selbstredend nicht zuletzt das Verdienst der Regie, die allen politdidaktischen Staub von Brechts – in seiner formalen Vielschichtigkeit über ein Lehrstück allerdings weit hinausgehenden
– Kommentar zur Weltwirtschaftskrise von 1929 geblasen hat und überzeugend vorführt, wie man Brecht heute spielen kann: hart, direkt, dynamisch, sehr körperlich, dabei abstoßend bis zum Ekel – so
wie die Trash-Ästhetik der sozialkritischen englischen Gegenwartsdramatik à la "Trainspotting" oder "Shoppen und Ficken".
Dafür braucht der Bühnenbildner Simeon Meier neben der desillusionierenden arbeitstechnischen Sicht von hinten in den Bühnenturm und auf den heruntergelassenen eisernen Vorhang weiter nichts als
zwei bewegliche Podeste. Auf dem einen sitzt die von Malte Preuß mit Elvistolle an der E-Gitarre geleitete Band der Soldaten Gottes – mit André Benndorf (Gitarre und Gesang) und Falko
Gottsberg-Jacobs (Keyboard) –, deren Halleluja-Rufe sich ins Ohr drängen wie das verlogene Pathos fundamentalistischer amerikanischer Fernsehprediger. Das andere, ein Achteck mit Stufe und
Geländer in schreiendem Lila, ist so etwas wie die Bühne, auf der die faulen Transaktionen der Kapitalisten, des Chicagoer Fleischkönigs Pierpont Mauler, des mit ihm verbandelten Börsenmaklers
Sullivan Slift (Ben Daniel Jöhnk) und der von ihm abhängigen Produzenten Cridle (Martin Weigel) und Graham (Albert Friedl), verhandelt werden. Es geht um etwas Ähnliches wie um die in Verruf
geratenen Leerverkäufe auf dem Geldmarkt: Man spekuliert auf fallende Preise einer lebensnotwendigen Ware, die man bei hohem Preis verkauft, obwohl man sie nicht besitzt. Beim Tiefstand kauft man
die komplette Ware wieder auf: Der Aufkauf führt zu einer künstlichen Verknappung – während in Wirklichkeit die Lager übervoll sind. Das heizt die Nachfrage wieder an. Die Preise steigen. Ein
Stoff für die schöngeistige Unterhaltung der gebildeten Kreise ist das nicht gerade. Aber wie Brecht in seinen Anmerkungen zu "Johanna" sehr zutreffend festgestellt hat, "gibt es (in Deutschland)
zweierlei arten von leuten: solche die geschäfte machen und solche die bücher lesen. Diejenigen die geschäfte machen, verstehen wenig vom bücherlesen, diejenigen die bücher lesen, wenig vom
geschäftemachen." Daran hat sich bis heute wenig geändert. Auch darum nimmt der Dramatiker Brecht, der die Geschäfte in die "heiligen hallen" der Kunst einschleust hat, in der deutschen
Theatergeschichte eine singuläre Stellung ein.
Man muss die Geschäfte also ernst nehmen und nicht Versen im Stück auf den Leim gehen, die die Krise als Naturkatastrophe beschwören. Man darf auch Pierpont Maulers wehleidiges Gerede von seinem
ihm jeden Profit vergällenden Mitleid mit einem blonden Ochsen nicht für bare Münze nehmen. Ihn als Bösewicht, als Charaktermaske des gierigen Monopolisten darzustellen, verfehlte die Figur
jedoch ebenso. Johanna Eiworth ist dieser Mensch, sie spielt ihn als einen panisch Getriebenen zwischen Ohnmachts- und Allmachtsphantasien, zwischen selbstquälerischen Anfällen von Skrupeln
angesichts des Elends der ausgesperrten Arbeiter und beherrschtem Kalkül: das Gesicht wie zur Buße in der pampig-ekligen Armensuppe vergraben und gleich darauf mit einem halbrohen Steak im Mund
zur zähnebleckenden Grimasse verzogen. Es ist eine überragende, überwältigende, bis an die physischen Grenzen gehende Leistung, neben der es selbst Charlotte Müllers Johanna nicht ganz leicht
hat, sich zu behaupten.
Obwohl sich auch diese junge, sehr ambitionierte Schauspielerin, in dieser Spielzeit vom Berliner Ensemble nach Freiburg gewechselt, ohne Rücksicht auf Verluste in die ambivalente Rolle dieser
christlichen Fürsprecherin der Entrechteten hineinwirft. Wie sie ihnen mit beseeltem Blick hinter einer riesigen Heilsarmistenbrille (Kostüme: Birgit Holzwarth) die Speisen des Himmels verspricht
und erkennen muss, dass es ein sehr irdischer Hunger ist, der die Arbeiter Gloomb (Jens Bohnsack) und Frau Luckerniddle (in ihrem schmuddeligen Aufzug nicht zu erkennen: die großartige Uta
Krause) umtreibt; wie sie sich, nackt wie Eva im Paradies und schutzlos wie ein Kind, dem Mauler mit aller reizenden Naivität einer idealistischen Seele nähert, um ihn zu bekehren; wie sie vor
der Gewalt eines Generalstreiks zurückschreckt und dadurch die Sache der Arbeiter verrät; wie sie in dem von Schiller adaptierten hohen Ton spricht, ohne ihn der Lächerlichkeit preiszugeben; wie
sie – in der letzten grandiosen Szene – ihrer propagandistischen Heiligsprechung durch den Unisonochor von Kirche und Kapital verzweifelt zu widerstehen versucht: Diese Johanna, gescheitert und
dennoch nicht besiegt, lässt einen so schnell nicht los.
Zu spät! Es ist zu spät für die Erkenntnis: "Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und / Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind". Die Krise, "Hosianna", ist bewältigt – auf Kosten der
Arbeiter und der Kleinsparer und des Mittelstandes. "Nun atmet auf, nun muss der Markt gesunden!" Steht alles bei Brecht. Könnte aber auch in den Zeitungen von morgen stehen.