08.05.2014
Die Schweiz von Doris Dziersk: Ein faltiger Kuhmagen, zersiedelt durch ein paar hingeworfene Betonelemente. Und Musiker wie Schauspieler sind in, unter und über dieser Welt daheim. Bild: Caspar Urban Weber
Es geht aufwärts! Die Zuschauerzahlen des Neumarkt-Theaters steigen – wenn auch erst mal nur aus dem Kellerloch heraus; und selbst bei eingefleischten Skeptikern lüpften sich am Mittwoch, während der Uraufführung von «Europaallee», immer wieder die Mundwinkel; zum Finale dieser Produktion erhob sich gar ein regelrechtes Matterhorn aus der ockerfarbenen Deckenlandschaft, die Doris Dziersk so in den Saal hineingewurstelt hat, dass man an faltige Kuhmägen denken muss oder an wellenreiche Kuhfladen, zersiedelt durch ein paar hingeworfene Betonelemente. Schweiz eben, geknüllt zum groben Gewebe für diese theatrale Einlassung über Sonderfall und Réduit, Bauboom und Gentrifizierung: ein illustrationsfreies, dafür assoziationsreiches Meer aus Stoff mit tausend Möglichkeiten zum Hinausblicken, Sichdrunterwühlen und Drüberkriechen. Genau, ein typisches Spielfeld der 40-jährigen, mehrfach ausgezeichneten Installationskünstlerin, die oft mit Meg Stuart zusammenarbeitet.
Man ist am Theater Neumarkt also definitiv auf dem Weg nach oben, obwohl der Besucher bei dieser – der zweitletzten – Premiere der Einstandssaison von Direktor Peter Kastenmüller und seinem Team mental ja eher nach unten schaut, zum Hauptbahnhof nämlich; besser gesagt, zum neu geschaffenen Viertel davor, zur Europaallee. «2012 öffnet die Einkaufspassage im Baufeld A. 2013 wird das Baufeld C eröffnet. 2015 können Sie mit Ihrem Retailkonzept mit dem Cluster Mode im Baufeld G dabei sein. 2018 eröffnen die Baufelder B und F. 2020 mit der Fertigstellung des Baufeldes D ist der neue Stadtteil an zentralster Lage komplett.» Das verkündet die sexy Flugbegleiterin, die durch Zürichs schöne neue, aber nur bedingt tapfere Welt führt, Janet Rothe mit Bleistiftrock, brauner Nerdbrille und knallrotem Mund. Vorher hat sie sich schon mit Martin Butzke, Maximilian Kraus, Martin Schütz (grandios am E-Cello) und Bo Wiget (am akustischen Cello; «yeah!» ruft er selbst - und wir auch) durch das Wort «E-u-r-o-p-a-a-l-l-e-e» buchstabiert. So verfugt sich eine mal geflüsterte, mal gebrüllte, dadaistische Kakophonie, eine stürmische Performance zu den Klanggewittern kreischender Instrumente. Die Musik rast, auf den beiden Bildschirmen dräut ein düsterer Himmel über der Limmatmetropole, die Jacketts und Krawatten glänzen kunststoffkrank: Walpurgisnacht 2.0, pardon, 21.0.
Eine jazzige Meistereinlage
Die «Europaallee» ist eine Autobahn für doktheaternde Datendichte, poptheaternden Pointenmut und projekttheaternde Postdramatik mit Live-Cam-Passagen und einer Menge im Grunde inkompatibler Musik. Die reicht von a cappella geträllerten Volksliedern bis zu elektronischem Fortissimo, von klassischem Triller bis zu Techno-Gewummer und vom Mitschunkel-Schlager bis zur Bach-Motette. Trotzdem ist das Ganze kein locker linksintellektuell aufgebrezelter Gemischtwarenladen in der wohlfeilen Schweiz-Kritik-Ecke, keine blosse Gaudi mit ein paar Fakten und ein paar Fingerübungen zwischen Jazz und John Cage – sondern eher eine Art Cabaret infernal vor der Gripen- und nach der Masseneinwanderungsabstimmung. Der Autor Christoph Frick – der bestens bekannte Theater-Klara-Mitgründer führte auch die Regie –, sowie die Koautoren Schütz und Wiget haben die grösste Stadt der Schweiz und ihr grosses bauplanerisches Projekt datentechnisch angepackt und dann alles ästhetisch so eingepackt, dass wir gern am bunten Bändel ziehn und - auspacken.
Wie da etwa Martin Butzke als Architekt Adam Caruso geschmeidig an allen lebens- und wohnpraktischen Fragen vorbeiantwortet, ist eine jazzige Meistereinlage für sich. Und der brutale Pas-à-trois rund um die knüppelharten Mietkonditionen im Shopbereich der Europaallee («Konventionalstrafe bei Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Ladenöffnungszeiten C-H-F 1000 pro Tag») ist eine böse SM-Nummer, wo man zwar die schnieken Kleider anbehält, die Seele aber splitternackt zum Teufel geht.
«Ich bin Atmosphäre, Ladenunikat, Treffpunkt, Identifikation, ich bin Naschmarktstil – ich bin attraktiv», jault die Mieterin in spe und hat uns damit längst aus dem Klein-Klein der Europaallee hinaus in die globalisierungsgrosse offene Wunde der Selbstvermarktungshysterie hineingeheult. Dass Kraus dazu cool sein amerikanisches «Aha, Aha, Aha» intoniert, zwingt allerdings zum Lachen; oder wenigstens zum besagten Lupfen der Mundwinkel.
«Wiedikon, Opfikon, Oerlikon, Dietlikon City, City City»
Überhaupt hat der 30-jährige Denglish daherberserkende Münchner Pilotenbrillenträger ein schräges komisches Talent. Dennoch macht nicht jeder Witz Spass. Da bewegt man sich weg vom Bauprojekt und, erwartungsgemäss, hin zum Minarettstopp. Es wird gejodelt, was die Stimmbänder halten, Kuhglocken bollern, und auch das SVP-Plakat vom schwarzen Schaf wird aufs Neue bemüht (obwohl: das war durchaus amüsant!). Und ohne «Luegit vo Bärg u Tal» geht so ein Abend offenbar gar nicht. Aber das ist Mosern auf, na ja, eben Matterhorn-Niveau. Wir ziehen mit, wenn die Actrice mit Pierrotesker Tristesse ihren einsamen Pendler-Pop rezitiert: «Pfäffikon, Bubikon, Wetzikon, Effretikon, Zumikon, Zollikon, Berlikon, Wiedikon, Wiedikon, Opfikon, Oerlikon, Dietlikon City, City City.» Oder wenn das Trio aus deutschen Schauspielern mit dem Schweizer Musikerduo nach dem Bepob «Swiss, biss, ness, bsbsbsbs, swissness» die reichsten Schweizer Firmen samt ihren irren Gewinnzahlen säuselweich herunterschlagert. Stark! Sogar das sich längende Ende lohnt sich, am Ende, doch noch. «Gute Nacht, o Wesen, das die Welt erlesen! Mir gefällst du nicht», bacht es dort. Uns hat das sehr gefallen.
Alexandra Kedves
Irgendwann lallen sie sich alle einen runter in ihrer Marktgeilheit, und ihr Hohelied auf die Europaallee, dieses Quartier einer hyperurbanen Reissbrettzukunft, klingt jetzt, als würden sie einen fremden Götzen anrufen: «Europa-Allah!» Es ist der komische Höhepunkt im Theater Neumarkt, weil hier im vermeintlichen Nonsens gleich mehrere Vektoren der hiesigen Gegenwart mal kurz übers Kreuz gelegt werden: Kapitalismus als Religion, der Kult um Standort- und andere Wertfaktoren, aber auch die gebetsmühlenartig beschworene Angst vor dem Fremden.
Was ist die Europaallee gleich neben dem Zürcher Hauptbahnhof, und was soll sie noch werden? Für den Autor und Regisseur Christoph Frick ist sie vor allem eine Fundgrube für Marketingparolen aller Art und ein symbolischer Ort, an dem sich Gentrifizierung, Wachstumswahn und unbegrenzte Mobilität gegenseitig potenzieren. Zusammen mit Martin Schütz (Cello und Elektronik) und Bo Wiget (Cello und Gesang) und dem Neumarkt-Ensemble hat Frick eine Text- und Soundcollage gebaut, die zwischen lautmalerischem Slapstick und infernalischem Gebrüll um die totale Vermarktung des Stadtraums kreist. Oder frei nach Theodor W. Adorno: Konsum ist ein Stahlbad.
Die Bühne: eine Faltenlandschaft in einem Farbton, wie er wohl herauskommt, wenn man Raubgold mit Gaggibraun mischt. Und mittendrin auf dieser Baustelle: Martin Butzke, Maximilian Kraus und Janet Rothe, die uns mit Daten, Vertragsklauseln und Marktprognosen eindecken. Klingt trocken, entwickelt sich aber zu einer fulminanten ideologiekritischen Revue – auch wenn die Europaallee für einen ganzen Abend dann doch nicht genug hergibt. Etwa ab der Hälfte biegt das Ensemble in eine pauschale Swissness-Farce ab, samt Techno-Jodel, Glencore-Soul und schwarzen Schafen, die ausgegrenzt werden. Am Ende bleibt nur noch das Wachstum übrig auf der Bühne – als Geschwür.
Florian Keller