Der Einzelfall ist die Regel
von Jürgen Reuß
Freiburg, 17. Oktober 2009. Alle Spieler sehen gleich aus: brauner Anzug, hellblaues Hemd, Bazon-Brock-Gedächtnisperücke und koalitionsfarbene Turnschuhe. So gewandet erklimmen die Mitwirkenden dieser Koproduktion des Tanz- und Theaterkollektivs pvc, des Freiburger Theaters und von Theater Klara eine Showbühne aus Podesten und weißen Vorhängen auf der kleinsten Bühne des Freiburger Theaters, stöpseln E-Gitarren ein, drängeln sich hinterm Schlagzeug oder dem elektrifizierten Cello, posen ausgiebig oder treiben sonstige amüsante Dinge.
Wer in dieser spartenübergreifenden Inszenierung nun Schauspieler, Tänzerin oder Musiker ist, wird nicht gleich ersichtlich. Warum auch? Hochstapler und Falschspieler zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie jederzeit in nahezu jede beliebige Rolle mit einer gewissen Überzeugungskraft zu schlüpfen wissen. Zumindest die Könner dieses Fachs.
Die Stars unter ihnen werden hier dann auch durchaus erkennbar zitiert, vom Postboten Gerd Postel, der sich zum Oberarzt hochgeschwindelt hat, über den Bankenbetrüger Jürgen Schneider, bis zum mörderische Politclown Donald Rumsfeld, der hier auch in die Kategorie der "Hochstapler und Falschspieler" fällt, wie der Abend überschrieben ist.
Das Blendwerk der allumfassenden Körperpolitik
Rumsfelds Erwähnung in diesem Kontext deutet dann auch schon an, in welcher Rolle Regisseur Christoph Frick die Blender in unserer Gesellschaft sieht: sie sind mächtige Entscheider und kulturelle Leitbilder. Wir sind es gewohnt, die Postels und Schneiders als kuriose Einzelfälle zu betrachten. Doch Frick gelingt es, durch den einfachen Trick der Vervielfältigung aus dem Einzelfall die Regel zu machen. Wenn all diese Anzugträger im aufgeblähten Marktbeherrscherjargon durcheinanderpalavern wird aus dem als kriminell gebrandmarkten Einzelfall plötzlich ein ganz normaler Tag an der Börse.
Das Geniale an Fricks Inszenierung ist, dass sie dabei aber nicht auf banales Finanzmarktbashing zielt, sondern gerade in der Vermischung von Tanz, Schauspiel und Musik zeigt, dass dieses Gebaren sich nicht mehr in einem bestimmten Segment der Gesellschaft isolieren lässt, sondern längst jeden Einzelkörper ergriffen hat. Das Blendwerk ist allumfassende Körperpolitik vom Börsenparkett bis zur Miniplaybackshow. Die Hochstapler sind bei Frick folgerichtig auch keine gerissenen Schlitzohren, sondern zerrissene Seelen die eher in ihr Falschspiel hineingesogen werden.
In ausgreifenden Schleifen eines ansteckenden Wiederholungszwangs, kongenial akustisch umgesetzt von den Musikern Martin Schütz und Tobias Schramm, umkreisen sie einen Kern, dessen Sinn verloren gegangen ist, und streben im Schlusschoral der unheilbaren Ekstase des Lügens zu. Eine Massenepidemie, die in einem per Video ins unendliche projizierten Massenaufmarsch der Braunjacketts mündet. Selten hat pvc das, wofür es als physical virus collective angetreten ist, wörtlicher auf die Bühne gebracht.