Heft Dezember 2016

Shakespeare am Stück

 

Christoph Frick inszeniert in Freiburg Schlachten! als rasante Staffelfolge

von Bodo Blitz

 

Die Statik des Kleinen Hauses des Theaters Freiburg ist aufgebrochen. Jana Findeklee und Joki Tewes (Bühne, Kostüme, Video) haben die Guckkastenbühne entsorgt und zur Arena gewandelt. Dieses Bühnenbild ist eine Setzung. Theater total, mit den Zuschauern mitten drin im öffentlichen wie privaten Machtkampf der Häuser York und Lancaster.

 

In Tom Lanoyes und Luc Percevals Textvorlage „Schlachten!“ bleiben Schlachtszenen weitgehend ausgespart. Brutalität und Dynamik entfalten sich in Lanoyes komprimierter Fassung von Shakespeares Rosenkriegsdramen über die Direktheit der Sprache, zudem über die Verdichtung von Interaktion. Beides, Sprache wie Interaktion, verweisen auf die Stärke des Theaters. Regisseur Christoph Frick vertraut diesen Stärken. So dominiert bereits auf den Proben spielerische Variation, Wucht, Expressivität bis zur Übersteigerung. Geradezu irritierend wirkt das vertrauensvolle Miteinander des spielstarken Ensembles, die Liberalität und Offenheit des Probenprozesses. Dieser Gemeinsinn bedeutet das genaue Gegenteil des düsteren Machtportraits, der Intrigen und der scheiternden Kommunikation bei Shakespeare. Frick greift bei den Proben nur wenig ein, und wenn, dann auf der Ebene der psychologischen Glaubwürdigkeit: An welcher Stelle kippt die Frustration einer Figur in Aggression? Was ist der Zielpunkt einer Szene? Geprobt wird Der fünfte Heinrich, der Schlachtengott unter den sechs Königen Lanoyes. Vorsichtig betritt der Schauspieler Martin Weigel als Heinrich V die Dachkonstruktion, die das familiäre Wohnzimmer im Bühnenbild nach oben hin kastenförmig abschließt. Weigel wiegt seinen Körper wieder und wieder von einer Seite zur anderen. Als liefe er sich warm zu einem Kampf mit zahlenmäßig weit überlegenen Franzosen, der indes in der Imagination der Zuschauer stattfindet. Wenn Heinrich auf das Kampffeld herab steigt, dann beugt er sich vornüber, droht zu stürzen. Es ist ein körperliches Vorwärtsfallen, kein siegreiches Schreiten.

 

Der Zielpunkt des Probenprozesses bleibt klar erkennbar: Die Franzosen betreten geschlagen den Bühnenraum und tragen auf ihren Händen den toten Dauphin, den Thronerben ihres Königs. Einer übergibt den Körper dem nächsten, dieser dem dritten, jener dem vierten und so fort. Die imaginäre Linie der gesamten Szene bebildert Shakespeares enorme Fallhöhe. Sie reicht vom Schlachtengott hoch oben bis zum beklagenswerten Tod ganz unten.

 

Shakespeares Amplituden sind gewaltig. Hoch- und Tiefpunkte, radikale Wendungen werden bereits auf den Proben deutlich markiert. Die Freiburger Kürzungen der Übersetzung von Klaus Reichert und Rainer Kersten sorgen für Präzision und Tempo. Zum ersten Mal seit den Salzburger Festspielen 1999 wagt es ein Haus, alle sechs Königsdramen Lanoyes hintereinander zu spielen. Sechs Stunden Gesamtlänge als Herausforderung? Das Gegenteil ist der Fall. Stück für Stück entfaltet sich das Serienfieber, wenn Freiburg es mit der Premiere wagt, zum ersten Mal seit den Salzburger Festspielen 1999 alle sechs Königsdramen Lanoyes hintereinander zu spielen.

 

Der Schauspieler Nicola Fritzen eröffnet den Königsreigen als Richard Deuxième. Selbstsicher und lasziv, mit weichen, schnellen Bewegungen beherrscht dieser die Bühne. Das politische Tagesgeschäft erledigt er launenhaft. Erst mit dem Tod vor Augen erarbeitet sich Fritzens Richard poetische Größe. Ein von ihm beiläufig Verbannter – Thomas Mehlhorn als Bolingbroke –  setzt seiner Herrschaft des Genusses, seiner Selbstverliebtheit ein rigoroses Ende. Die Ausstattung bebildert den Herrscherwechsel kongenial: An die Stelle eines langen, roten, körperbetonten Kleides des Repräsentationsprofis Richard tritt das graue Sakko seines Nachfolgers, des Law- and Order-Herrschers Heinrich 4. Doch das laszive Element seines Vorgängers, das Thomas Mehlhorn als Heinrich IV mit gefasster Strenge zu bekämpfen sucht, es dominiert im familiären Raum. Sein Sohn Heinz lebt in körperlicher, sinnlicher Einheit mit der Amme LaFalstaff. Frick hat diese Kunstfigur aus dem toten Körper Richard Deuxiemes entstehen lassen: Martin Weigel als Heinz zieht dem toten König auf offener Bühne das Kleid aus und modelliert den Schauspieler Fritzen mit Perücke, Seidenstrümpfen, hochhackigen Schuhen zu seinem Kindermädchen. Die überwunden geglaubte Traditionslinie von Richard reicht nun hinein in den Herrschaftsbereich von Heinrich IV.

 

Fricks häufig körperliches Spiel findet in Nicola Fritzens Figur LaFalstaff-Figur Raum und kontrastiert eindrucksvoll die unbarmherzige Zucht des neuen Herrschers Heinrich IV.. Thomas Mehlhorn mimt diese väterliche Brutalität auf selbstverständliche, gerade deshalb unerträgliche Art und Weise. Es berührt tief, wie Martin Weigel in der Rolle des ungeliebten Sohnes Heinz vom getretenen Köter zum zerfleischenden Kampfhund mutiert. Der Theaterbetrieb wird gläsern, nachdem der Sohn den Vater auf dem Bühnenkampffeld erdrosselt hat. Vor den Augen der Zuschauer statten Masken- und Kostümbildner Martin Weigel von der fast unbekleideten Kindsrolle zum erwachsenen Klonkrieger aus. Der Schlachtengott Heinrich V mit langer schwarzer Perücke, blutiger Schminke und Harnisch im Science-Fiction-Stil ist geboren, gestählt in der Unbarmherzigkeit väterlicher Erziehung.

 

Die Sinnlosigkeit des „Schlachtens“ zeigt sich in der Zäsur zwischen den Stücken Der fünfte Heinrich und Margaretha di Napoli: Wozu der siegreiche Kampf des Schlachtengottes, wenn dessen Tod eine Leerstelle schafft, die von seinem viel zu jungen Sohn nicht gefüllt werden kann? André Benndorffs legasthenisches Stammeln am Grab des Vaters gibt die Linie der Überforderung vor, die seine spätere Herrschaftszeit als Heinrich VI durchweg charakterisieren wird: Die Hose zu kurz, die Brille viel zu groß. Es schlägt die Stunde der Berater, Erzieher, Einschmeichler. Choreografie, Überzeichnung und Situationskomik bebildern diese Abhängigkeit des neuen Königs. Und mit Margaretha di Napoli betritt seine zukünftige Ehefrau die Bühne, modern interpretiert von Marie Bonnet. Ihr filmreifer Auftritt im Stile des „Paten“-Genres elektrisiert und pulverisiert die fragile Statik des Hofstaates. Zurücksetzung wird von Margaretha mit Hybris beantwortet. Mord ist selbstverständlicher Teil ihres Spiels auf dem Weg zur Selbstbestimmung: Machtmissbrauch nicht um politischer Prinzipien willen, sondern aus gekränktem Stolz. Ganz anders agiert Johanna Eiworth als Tante Leonore. Ihrer Figur gelingt es nicht, die Fesseln gesellschaftlicher Konvention zu sprengen. Der Untergang im Wahn ist Folge einer nach innen gerichteten Aggression und gleicht einer rabenschwarzen Opernarie der Selbstvernichtung.

 

Lanoye und Perceval konturieren in ihrer gewaltigen Shakespeare-Kompilation mit schnellen Strichen die Linie des Machtverfalls, gespeist aus Machtmissbrauch. Die Söhne der zu Unrecht Entmachteten, der Geköpften, sie ziehen den Thron in den letzten beiden Stücken auf die Straße. Iris Melamed als Eddy the King mit ihren Brüdern, Georgie (Lena Drieschner) und Rich (Melanie Lüninghöner), sprechen lustvoll die sehr direkte Filmsprache Tarantinos. Im Punker-Outfit gerinnt die einstige royale Repräsentationslust zur Farce. Typisiert inszeniert und mit rauem Tonfall der weiblich besetzten Brüdergang auf den dreckigen Punkt gebracht. Ein unterhaltsamer, rascher Anlauf zum Abgrund: der Herrschaft des Dirty Rich. In paradoxer Gegenlinie zur klar einsehbaren Degeneration entfaltet sich gerade im Schlussteil Tragik. Melanie Lüninghöner legt die Seele des Scheusals frei. Der Einsamkeit entgeht sie durch die Thronbesteigung nicht, im Gegenteil. Es spricht für die Besessenheit der Freiburger Inszenierung, dass das Ensemble sich dieses Schlusses nach der Premiere noch einmal angenommen hat. Dieser Prozess schärft die verstörende Gleichzeitigkeit von Radikalität und Fragilität in Lüninghöners Spiel. Richs Selbsttötung findet als reiner Sprechakt statt. Konsequenter Zielpunkt einer großen Inszenierung, die das Theater zu seinem Kern finden lässt.


 

Di, 04. Oktober 2016

Theater Freiburg

Christoph Frick inszeniert "Schlachten!"

Der Stoff lädt zur Gewaltorgie ein, doch zum Auftakt der Freiburger Theatersaison fließt kein Tropfen Blut. Stattdessen werden alle, die in dem komödiantischen Spektakel auf der Strecke bleiben, durch eine Müllklappe entsorgt.

 

André Benndorff als Kinderkönig Heinrich VI Foto: Maurice Korbel

Es waren dunkle Zeiten, als sich in England die Mitglieder zweier verfeindeter Familien so lange an die Macht mordeten, bis sie sich gegenseitig ausgerottet hatten. Die Rosenkriege (weiß gegen rot, Lancester gegen York) hat William Shakespeare in seinen acht Königsdramen verewigt. Tom Lanoye und Luk Perceval fassten diese für ein 1999 aufgeführtes zwölfstündiges Spektakel zusammen mit dem Titel "Ten Oorlog" ("Zum Krieg"), auf Deutsch "Schlachten!" Doch wer jetzt Christoph Fricks auf gut sechs Stunden heruntergebrachte Inszenierung zur Eröffnung der Spielzeit im Kleinen Haus des Freiburger Theaters sieht, braucht keine Angst vor einer Gewaltorgie zu haben: Es fließt kein einziger Tropfen Theaterblut. Und die, die auf der Strecke bleiben, werden fein säuberlich durch eine Müllklappe entsorgt. In diesem brutalen Umfeld ist das eine bemerkenswerte Leistung.

Die Stunde der Frauen
Schon zum Auftakt wähnt man sich eher auf dem Jahrmarkt als in Shakespeares Zentren und Nebenzentren der Macht. Das Publikum darf in dem noch unbestuhlten Raum herumflanieren, in der Mitte steht ein Podest, auf dem Bolingbroke und Mowbray einen Ringkampf austragen. Wir sind am Hofe Richards II, der sich mehr in Prunk und Libertinage ergeht, als an sein Kerngeschäft zu denken. Das rächt sich. Nicola Fritzen verfolgt die Auseinandersetzung in rotem Etuikleid, Hermelinmantel und hochhackigen Lackschuhen wie Ludwig XIV. von einer in den Raum gebauten gepolsterten Rampe, in deren Luken alle Mordopfer geräuschlos verschwinden. Wie er die Finger mit den klotzigen Ringen spreizt, wie er mit seiner Entourage auf und ab stolziert, wie er mit jeder dekadenten Faser seines Körpers Verschwendung genießt: Richard II – man spreche den Namen französisch aus – ist der Vertreter einer Monarchie, die nur noch sich selbst genießt.
Da ist Bolingbroke aus anderem Holz geschnitzt: Die grandiosen Bühnen- und Kostümbildnerinnen Jana Findeklee und Joki Tewes, deren unerschöpfliche Erfindungen diese Inszenierung zum optischen Ereignis machen, haben dem allseits beherrschten und souveränen Thomas Mehlhorn einen mausgrauen, karierten Anzug auf den Leib geschneidert. Bei Richards Nachfolger Henry IV herrscht ein anderes Regime. Da ist faschistoid schneidend von Volkswohl und Härte die Rede. Den Hass auf alles Weichliche und Weibliche lässt der König an seinem Sohn Heinz aus: Martin Weigel gibt ihn als weinerliches Kind, das zu der tuntigen La Falstaff (Fritzen darf im Brokatslip seinen makellosen Körper zeigen) ein homoerotisches Verhältnis hat und auch noch aus der Feinrippunterhose steigt, um mit seinem Geschlechtsteil Propeller zu spielen.

Doch welche Veränderung geht in Heinzilein vor, als er sich endlich ein Herz fasst und gegen seinen Monstervater opponiert: Auf offener Bühne wird ihm eine Darth-Vader-Rüstung angelegt. Der Fünfte Heinrich ist der Krieger unter den Rosenkönigen. In der Schlacht gegen Frankreich trägt er trotz Unterzahl den Sieg davon und versöhnt durch zweckmäßige Heirat die verfeindeten Lager. In diesem Stück zeigt sich am deutlichsten die Lust des Regisseurs an der Komödie: Lachen statt Schlachten ist nicht nur hier die Devise der unterhaltsamen Inszenierung – wozu die am Klischee französischer Überfeinerung orientierten Kostüme des Gegners beitragen, der sich lieber an der Bar der Passage 46 verlustiert, als das Schwert in die Hand zu nehmen.

Das meidet auch der Kinderkönig Heinrich VI, den André Benndorff mit aufgerissenen Augen hinter riesigen Brillengläsern als die liebenswerte Hilflosigkeit in Person spielt. So einer braucht eine starke Frau, um nicht vor der Zeit unterzugehen: Er bekommt sie in Marie Bonnets famoser Margaretha di Napoli. Ihre Überidentifikation mit dem englischen Königshaus trägt sie auf dem Leib – und gegen eine starke Gegnerin den Sieg davon. Als vom Hexenwahn befallene Lady Grey zeigt Johanna Eiworth, was sie kann. Damit schlägt in der Inszenierung die Stunde der Frauen. Iris Melamed ist ein großspurig punkiger King Eddy, der mit seiner Brudergang wie weiland Alex in "Clockwork Orange" Furcht und Schrecken zu verbreiten versucht. Und Melanie Lüninghöner muss mit einem braunen und einem blauen Auge Richard III sein – hier: Dirty Rich Modderfocker der Dritte.

Schwer erträgliches Denglisch
Was Lanoye und Perceval dazu trieb, die an Shakespeares Verse angelehnte Sprache in den letzten beiden Stücken von "Schlachten!" zugunsten eines schwer erträglichen Denglisch aufzugeben, erschließt sich nicht. Die Engführung von moralischer und sprachlicher Verrohung leuchtet bei einem rhetorisch ausgefuchsten Bösewicht wie Richard III keineswegs ein. Wenn im letzten Drittel der Inszenierung die Spannung deutlich nachlässt und das Interesse an den Figuren schwindet, ist das keinesfalls den fabelhaften Darstellerinnen anzulasten. Man versteht das prollige Kauderwelsch nicht – und will es auch nicht. Der Horror, den Modderfocker durch maßloses Morden verbreitet, geht einen nichts an, weil er durch den tobenden Slang eher verdeckt als demonstriert wird.

Aber dieser Einwand wiegt nicht schwer angesichts eines brillanten Ensembles und einer furiosen, lustvoll sinnlichen Inszenierung mit der einfallsreichen Musik von Anatol Atonal, die gegen den Nihilismus der Wiederkehr des immergleichen Schemas von Machtgier, Verrat und Mord mit den Mitteln der Komik anspielt. Auch bei Shakespeare ist das erlaubt. Der Premierenjubel war verdientermaßen riesengroß.
Bettina Schulte

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Theater der Zeit, "Schlachten!" Regie C. Frick
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Theater Heute, "Schlachten!", Regie C. Frick
Theater Heute "Schlachten!", Regie C. Fr
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Badische Zeitung, "Schlachten!" Regie C. Frick
161004 Schlachten!, Badische Zeitung.pdf
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